Im vergangenen Jahr, noch in Deutschland, fiel mir eine Plastiktüte in unserem Abstellraum auf. Erst habe ich sie ignoriert. Dann, nach Wochen, die Tüte war immer noch da und wurde immer voller, habe ich hinein gesehen.
Es war eine Aldi-Tüte, mindestens halbvoll mit Schraubdeckeln von allen möglichen Gläsern, Marmelade, Gewürze, Bohnen, alle möglichen Deckel. Ich habe nicht im Traum geahnt, welchen Mengen an Marmelade wir so wegputzen.
Die Deckel waren unterschiedlich groß, überwiegend Marmeladendeckel. Normalerweise frage ich nicht, was so was zu bedeuten hat, denn Galina ist schnell beleidigt, fühlt sich kontrolliert und das muss ja nicht sein. Aber der Plastiksack wurde immer voller und irgendwann habe ich dann doch gefragt.
Es entspann sich folgender Dialog.
'Darf ich das nicht?' Sehr spitz.
'Doch, natürlich. Ich wundere mich bloß. Du bist die erste Frau in meinem Leben, die Marmeladendeckel sammelt.'
Schweigen. Zwei Stunden später.
'Die Deckel sind für meine Mutter und für Luda (Schwägerin).'
'Na gut, aber wie kommen die denn bis nach Perm. Die Dinger haben Gewicht und nehmen Platz weg. Wie willst Du die transportieren?'
'Im Koffer.'
'Aber du fliegst immer nur mit einem Koffer und einer Tasche. Wie soll das gehen?'
Schweigen. Zwei Stunden später.
'Ich lass einfach ein paar Schuhe hier.'
Mir verschlug's die Sprache. Eine Russin, die freiwillig auf Schuhe verzichtet, die mal zu mir gesagt hat, wenn ich diese oder jene Schuhe anziehe, wissen alle, ich komme aus dem Westen, sind gelb vor Neid und machen Ziegenschnauzen.
'Ist es denn nicht vernünftiger, die Deckel in Perm zu kaufen und stattdessen Schuhe mitzunehmen?'
'Solche Deckel gibt es nicht in Russland, das sind deutsche Deckel. Wenn meine Mutter einweckt, dann sind Anfang Dezember schon die ersten Konserven schlecht.'
Ich, ganz der gönnerhafte Ehemann: 'Dann nehme eine zusätzliche Tasche mit.'
'Nein, es regnet und schneit jetzt in Perm. Da ziehe ich meine guten Schuhe sowieso nicht an.'
Kurze Zeit später wollte Galina für 3 Wochen nach Perm reisen. Einen Tag vorher setze ich mich an den Frühstückstisch und mein Unterbewusstsein sagte mir, da war irgendetwas anders. Ich kam aber nicht darauf, sah es einfach nicht.
Galina goss uns Kaffee ein, ich langte zum Brot, strich Butter auf die Brotscheibe, langte zum Marmeladenglas. Just in diesem Moment viel mir auf, was heute Morgen anders war. Der Deckel vom Marmeladenglas ist normalerweise dunkel mit Kirschen drauf. Jetzt war er weiß, ohne Kirschen. Ich hob das Glas am Deckel hoch.
Dann hielt ich den Deckel in der Hand, das Glas fiel runter, direkt auf meine Kaffeetasse, verteilte den Kaffee über den Tisch, auf mein Hemd, auf Galinas Bluse, über den Boden. Wir haben große Tassen.
Sagt Galina: 'Siehst du, das ist ein russischer Deckel.'
Am Donnerstag ist sie gefahren, die deutschen Marmeladendeckel im Koffer und einer zusätzlichen Tasche für ihre Schuhe.
Moral von der Geschichte. Russland ist ein reiches Land. Aber zu vernünftigen Konservendeckeln bringen sie es nicht. Galina sagte einmal zu mir: 'Wir haben immer noch Nachkriegszeit.'