Wo die Zeit stehen geblieben ist
Ich kenne nicht viele russische Dörfer, deshalb kann ich hier nur ein paar Momenteindrücke beschreiben, kleine Ausschnitte zeigen, die Sonnenseiten des Dorflebens aufzeigen, die man als Besucher, zumal als angeheirateter Verwandter aus dem Westen, gezeigt bekommt. Das Dorf, in dem mein Schwager Gennadi und Schwägerin Ludmila leben, liegt etwa 25km südlich von Perm, also in einem noch sehr stadtnahen Gebiet, noch nicht in den einsamen Weiten Sibiriens. Die Menschen hier bezeichnen sich trotzdem als Sibirier und sie sind stolz auf sich und ihre Lebensweise. Fast verachtend, mindestens herablassen blicken sie nach Moskau oder St. Petersburg. Das ist weit weg, ein Sibirier geht dort nur hin, wenn er unbedingt muss. Umgekehrt ist es allerdings genau so. Für einen Moskowiter zählt nur Moskau, alles Andere bezeichnet er herablassend als Provinz.
Nach Gennadis Beschreibungen ist das Leben im Dorf für meine westlichen und entsprechend verweichlichten Vorstellungen nur in der warmen Jahreszeit angenehm und die ist sehr kurz. Im Winter kann hier sehr viel Schnee fallen, 2 Meter und mehr sind keine Seltenheit und Temperaturen von minus 35 bis 40 Grad werden als normal empfunden. Der Busverkehr zu den Dörfern bricht dann zusammen, man muss warten, bis es wärmer wird und der Diesel wieder flüssig ist. Im Winter stehen auch mal Elche oder Bären im Vorgarten. Einmal wurde Gennadi von einem Rudel Wölfe verfolgt, konnte sich gerade eben noch ins Haus retten.
Abgeschnitten vom öffentlichen Verkehr ist man aber trotz der Dieselprobleme nicht, denn merkwürdigerweise hält in diesem kleinen Dorf der Transsibirien Express. Der Bahnhof macht einen sehr provisorischen Eindruck, es gibt auch keine richtigen Bahnsteige, aber man hilft sich gegenseitig auf die hohen Trittbretter der Waggons, um sich selbst, Hühner und Körbe und Tüten mit Gemüse und Kartoffeln zu verladen.
Der Zusammenhalt der Familie ist der Klebstoff, der dieses Land zusammenhält. Die Familie, die Frauen, die auch noch aus kümmerlichen Resten eine Suppe kochen und die Landbevölkerung. Jeder, der im heutigen Russland mit offenen Augen durch Supermärkte und Lebensmittelgeschäfte gegangen ist, weiß von den hohen Preisen. Und die Preise steigen sehr viel schneller, als die Einkommen. Diese Preise sind vom Normal-Russen, Lehrern, kleinen Angestellten und besonders den Rentnern, den Leuten, die mit umgerechnet 100 bis 150 Euro auskommen müssen, nicht zu bezahlen. Sehr teuer, teurer als bei uns, ist alles, was importiert werden muss, viele Südfrüchte, auch Seefisch. Auch Fleisch ist sehr teuer, nicht einmal Hühner kann sich jeder leisten.
Was bleibt ist der Bruder, die Schwägerin, die Eltern oder sonstige Verwandte auf dem Land. Zum Wochenende in den Monaten, während der auf dem Land geerntet wird, machen sich Scharen von Menschen per Bahn oder Bus auf, um sich auf dem Land mit Gemüse, Hühnern und Eiern zu versorgen, und – nicht zu vergessen - um dort zu arbeiten, denn die Anbauflächen sind oft zu groß für die paar Familienmitglieder, die dort Landwirtschaft betreiben. Am Sonntagabend auf der Rückfahrt gackert und kräht es dann überall in den Bussen und in der Eisenbahn, dafür hat man zusätzliche Sitzplätze auf den Kartoffelsäcken und den Kohlköpfen.
Die Warmperiode in den nördlichen Landstrichen und damit die Pflanz- und Erntezeit ist wesentlich kürzer, als bei uns. Das dauert so von April/Mai bis September, dann fällt der erste Schnee. Auch im April gibt es noch Minus-Temperaturen, sogar im Mai erlebt man noch Nachtfröste, aber man pflanzt und sät schon.
Wenn endlich der Sommer da ist, wird man von den Mücken aufgefressen, und den Begriff ‚auffressen’ kann man ruhig wörtlich nehmen. Jedes Fenster ist mit einem Fliegengitter verrammelt, aber das hilft wenig, die Mücken finden ihre Schlupflöcher. Es erfordert schon viel russischen Gleichmut, die Mücken zu ertragen, Gleichmut, der mir völlig abgeht. Anfang August dann sind die Mücken verschwunden, von heute auf morgen. Galina sagt, man könne die Uhr danach stellen.
Als ich mich im vergangenen September von meiner Schwiegermutter in Perm verabschiedete, sagte ich zu ihr: Wir sind dann zum russischen Weihnachtsfest im Januar wieder hier. Nein, antwortete sie, kommt lieber im Sommer, da haben wir hier viel Arbeit. Kürzlich hat sie durch Galina fragen lassen, wo ich eigentlich bliebe, es sei Erntezeit.
Gennadi pflanzt in seiner kleinen Landwirtschaft alles, was irgendwie essbar ist. Das sind Kartoffeln und Kohl auf den größeren Flächen, dazwischen Bohnen, Gurken, Kürbis, Tomaten, Sonnenblumen und vor allen Dingen Zwiebeln und Knoblauch.
Es gibt außer den Sonnenblumen überall in den freien Ecken auch andere Blumen, aber die sind nicht etwa Dekoration, die sind Nahrung für die 3 Bienenvölker. Wenn es kälter wird, erstarren die Bienen, können nicht mehr fliegen und verkriechen sich in ihrem Bienenstock. Zum Überwintern verpackt Gennadi die Bienenstöcke in Kisten, die in einem warmen Vorraum zur Sauna bis zum nächsten Frühjahr gelagert werden.
Als ich vergangenen September dort war, gab es noch eine ausgewachsene Kuh und ein Kalb. Das Kalb wurde kurz vor dem letzten Weihnachtsfest in handliche Portionen verwandelt und tiefgefroren. Dieses Jahr im März hat die Kuh wieder gekalbt, und Ludmila war zur Überwachung der Geburt extra im Dorf geblieben, hatte an einem Familientreffen in Perm nicht teilgenommen. Aber das Kalb kam tot zur Welt. Das ist ein herber Rückschlag, der die Vorratsplanung für den nächsten Winter über den Haufen werfen kann. Im Moment und damit für den kommenden Winter ist der Ersatz eine größere Hühnerschar.
Den alten Grom, den Hofhund, gibt es nicht mehr. Seine Nachfolger sind 2 kleinere Ausgaben. Einer davon soll bis zum Winter zum gefährlichen Kettenhund heranwachsen, der andere teilt sich die Küche mit sechs Katzen, von denen aber nur eine dauerhaftes Wohnrecht im Haus hat. Die anderen fünf Katzen haben nachts gefälligst draußen und im Stall das Ungeziefer im Schach zu halten.
Wie ich jetzt hörte, hat der neue und noch nicht sehr gefährliche Kettenhund wohl übungsweise ein paar Hühner zu Suppenhühnern verarbeitet. Hoffentlich schafft er das ähnlich überzeugend auch bei den Wölfen und Bären, die im nächsten Winter sicher wieder im Vorgarten auftauchen werden.
Gennadi ist hauptamtlich Gewerbelehrer, er hat wenig Zeit für seine Landwirtschaft, im Moment liegt die meiste Arbeit bei Ludmila. Das wird sich noch in diesem Jahr ändern, denn Gennadi ist mehr als 25 Jahre Lehrer und hat damit Anrecht auf seine Altersrente. Das werden rund 120 Euro sein, im Russland von heute viel zu wenig zum Leben.
Das ganz aus Holz gebaute Haus hat 6 Räume. Der zentrale Raum des Hauses ist die Küche, hier wird vor allen Dingen im Winter gewohnt, denn hier steht der große Kachelofen. Im Kachelofen wird in der kalten Jahreszeit Wasser erhitzt, das heiße Wasser fließt über ein Rohrsystem in die Heizkörper. Heizkörper gibt es aber nur in der Küche und im Schlafzimmer. Oben auf dem Kachelofen ist die traditionelle Schlafnische. Es gibt auch ein großes Wohnzimmer, das wird aber nur selten benutzt. Direkt neben dem Wohnzimmer, getrennt durch eine dünne Holzwand ist der Kuhstall. Wenn sich eins der Tiere gegen die Wand lehnt, wölbt sich die Wand nach innen. Der Stallgeruch ist allgegenwärtig, aber auch die westliche Nase ignoriert das nach kurzer Zeit.
In der Küche steht der Fernsehapparat. Ein Festnetztelefon gibt es nicht, nur ein Handy, was aber nur selten vernünftigen Empfang gewährleistet. Mit der Technik ist das hier so eine Sache. Man ist schon zufrieden, wenn immer das Licht brennt und der Bus regelmäßig fährt. Internet oder ähnliches Teufelszeug wird es hier auf absehbare Zeit nicht geben.
Der Donnerbalken ist in einem kleinen Haus mit Spitzdach untergebracht. Als Zugeständnis an die Zivilisation gibt es hier auch eine richtige weiße Toilettenbrille mit Deckel aus Plastik. Der Pegel ist so rund 3 Meter unter dem Sitzplatz, weshalb es keine Querschläger geben kann – wenn der Pegelstand so bleibt. Von der Haustür bis zum Häuschen sind es rund 30 Meter. Im Winter steht ein Eimer mit Wasser und einem Desinfektionsmittel im Gang, damit man nachts nicht das Haus verlassen muss. Im Winter sollte man nachts besser nicht vor die Tür gehen. Die Körperteile, die bei diesen Extremtemperaturen nicht abfrieren, holen sich möglicherweise die Wölfe.
Ein sehr wichtiger Teil des Hauses ist der Anbau mit der Sauna. Egal ob es draußen heiß oder kalt ist – abends geht’s in die Sauna. Ich hatte gedacht, bei +28 Grad im Schatten und mehr bringt mich da keiner rein, aber ich habe mich eines Besseren belehren lassen, es ist auch bei Hitze sehr erholsam. Vor der Sauna zwischen Sonnenblumen und Tomaten steht ein großer Eisenbottich von irgendeinem Bauwagen, Inhalt sicher 10 qm. Wenn es ausreichend geregnet hat, hüpft man von der Sauna direkt in dieses Behelfsschwimmbad.
Im Dorf gibt es eine Poliklinik, ein Altenheim, ein Kino und eine Schule. Als ich fragte, wie viele Einwohner das Dorf habe, entstand eine kleine Diskussion. Man wusste es nicht. Sicher, es gibt irgendwo eine Art Melderegister, wer führt das eigentlich im Moment? Organisation ist nicht unbedingt eine herausragende russische Stärke. Zum Schluss der Diskussion hat man sich dann auf „etwa“ 5.000 Dorfbewohner geeinigt.
Die Schule würde man bei uns als Berufsfachschule bezeichnen. Sie ist uralt, aber gepflegt. Die ausschließlich männlichen Schüler kommen per Schulbus aus den umliegenden noch kleineren Dörfern und sind zwischen 15 bis 25 Jahre alt. Unterrichtet wird alles, was mit Handwerk zu tun hat, auch Deutsch, merkwürdigerweise kein Englisch. Außerdem werden Computerkurse angeboten.
Gennadi ist einer der 25 Lehrer, er macht die praktische Ausbildung in der Schreinerei und in der Metallverarbeitung. Elektrische Holzsägen, Drehbänke, Standbohrmaschinen – alles ziemlich alt, aber gepflegt.
Ein wichtiger zentraler Punkt des Dorfes ist der Krämerladen, ein Tante-Emma-Laden würde man ihn bei uns nennen. Hier gibt es alles, was nicht auf dem Acker wächst. Und – ganz wichtig – hier wird angeschrieben. Das Anschreibebuch ist eine ziemlich dicke Kladde. Ich glaube, da steht das halbe Dorf drin.
Als ich mit Gennadi auf dem Weg zum Krämerladen spazieren ging, hat er mir erklärt, dass er sich ein anderes Leben als das im Dorf nicht vorstellen könne, rund 10 Jahre lebe er jetzt hier. Er zeigte auf den nahen Ural, der im Dunst liegend zum Greifen nahe schien: Warum soll ich darauf verzichten, für was soll ich in der Stadt leben? Natürlich, sagte er weiter, ist es manchmal beschwerlich hier, zumal im Winter, aber in der Stadt könne er nicht mehr leben. Natürlich müsse er manchmal Monate auf sein Lehrergehalt warten, aber das müsste er in der Stadt auch. Das gelte ja nicht nur für ihn, sondern auch für Lehrer, Ärzte und andere staatliche Angestellte, die Bevölkerungsgruppen, die hier nie hoch im Kurs standen, eines der verqueren Überbleibsel sowjetischer Wertvorstellungen. Das ist normal, das ist in ganz Russland immer noch so, deshalb wird im Krämerladen ja auch angeschrieben. Wird in der Stadt auch angeschrieben, da wo kaum einer auch nur seinen Nachbarn kennt? Kaum.
In der Luft lag plötzlich trotz des strahlend blauen Himmels ein beißender die Nasenschleimhaut reizender Geruch. Das sind die Giftwolken aus den Chemiewerken in Perm, aus den Munitionsfabriken, dort, wo auch Raketentreibstoff hergestellt wird. Dort soll ich freiwillig leben, wenn ich es auch anders haben kann?
Aber das Leben ändert sich langsam zum Positiven, sehr langsam. In diesem Land dauert eben alles etwas länger. Deshalb regt sich niemand hier auf, das ist eben so. Das, was uns durchorganisierten Deutschen schon Zornesröte ins Gesicht treibt, nötigt dem Russen nur ein müdes Lächeln ab.
Die größte russische Tugend ist sicher die Geduld. Die Geduld lässt die Menschen hier Vieles ertragen, was woanders schon Revolutionen ausgelöst hätte. Vielleicht ist die Geduld aber auch die größte russische Schwäche, lässt die Probleme überhaupt erst entstehen.
Das ist meine Frau. Sie stammt aus Perm und im Moment putzt sie gerade Knoblauch.
Der "Donnerbalken"
Der alte Grom. Grom heißt Donner übersetzt und wohl auch deshalb hatte er vor nichts mehr Ansgt, als vor Donner.
Einer der 3 Bienenstöcke
Groms Nachfolger