Eine Parallele zwischen den USA und Russland ist die Eisenbahn. Ohne Eisenbahn hätte man Nordamerika nie in der Weise erschlossen, wie es im 19. Jahrhundert geschah und das gilt auch für Russland. Russland ohne Eisenbahn – kaum vorstellbar. Ein wesentlicher Unterschied aber ist die Größe der Kontinente. Von der West- bis zur Ostküste sind es in den USA vier Zeitzonen. In Russland waren es bisher elf, jetzt sind es nur noch neun. Diese Veränderung soll Präsident Medwedjew angeregt haben, weil, so sagte er, elf Zeitzonen unpraktisch seien.
Die Zeitangaben auf den Bahnhöfen zeigen immer die Moskauer Zeit, weshalb man in Russland dauernd rechnen muss. Die Russen können das, ich konnte es früher nicht. Seit ich in Moskau einmal meinen Anschlussflug nach Deutschland verpasst habe, weil ich, aus Perm kommend, meine Uhr falsch umgestellt hatte, kann ich das auch.
Die Familie meiner Frau ist über ganz Russland verstreut und wenn man sich sehen will, fährt man mit der Eisenbahn. Gerade war es mal wieder so weit. Wir waren, leider muss ich sagen, nicht dabei, aber dank Internet und Telefon wurden wir ständig auf dem Laufenden gehalten.
Onkel und Tante meiner Frau, Bruder meines verstorbenen Schwiegervaters, wohnen in Tynda. Das liegt im Oblast Amur, China und der Ussuri sind nicht weit. Sie sind nicht mehr die Jüngsten, fünfundsiebzig und achtzig Jahre alt, aber Bahnfahren können sie.
Die Familienfeier fand in Perm statt. Es gab keinen speziellen Anlass, es war einfach mal wieder an der Zeit. Von Tynda bis Perm haben die alten Leutchen fünf Tage im Zug gesessen, mit einer Unterbrechung nach zwei Tagen bei ihrer Tochter Katja in Chita.
In Perm wurde kräftig gefeiert, die Familie Kalaschnikow aus Perm war eingeladen, Bruder und Schwägerin meiner Frau aus Chornaja, Galina und Alexej, unsere Trauzeugen und wer sonst noch in Perm und Umgebung wohnt. Ich kenne sicher die meisten, sie waren auf unserer Hochzeit und auch zu Galinas und meinem Geburtstag 2008 in Perm. Aber weder weiß ich genau, wie die Familienbeziehungen sind, noch weiß ich, wo sie alle wohnen und wie lange sie im Zug sitzen mussten, um nach Perm zu kommen.
Die Familie Kalaschnikow kenne ich am besten. Slava Kalaschnikow war beim sowjetischen Generalstab in Berlin, Tochter Lena betreibt heute eine Kuchenfabrik in Perm und die Bezeichnung Fabrik ist keine Übertreibung. Tochter Natascha leitet ein Einkaufszentrum. Und dann noch Kinder und Enkel, acht sind es jetzt. Oder zehn? Ich muss fragen.
Die Wohnung meiner Schwiegermutter ist klein mit nur zwei Zimmern und Küche. Mein Schwager mit Freundin wohnen dort, und am 30. Januar wurde ihre Tochter Maria geboren. Es ist also eng. Als der Besuch kam, rückte man noch weiter zusammen.
Nach der Feier, die sich über eine Woche hinzog, fuhren die beiden alten Leute wieder fünf Tage zurück nach Tynda. In dem Alter sicher mit dem schalen Gedanken, man habe sich vielleicht zum letzten Mal gesehen.
Aber deshalb erzähle ich das alles nicht. Ich will über Tynda berichten, denn der Ort ist auf eine für uns, im kleinen Europa, merkwürdige Art entstanden.
In der Gegend lebten immer Pelztierjäger, Goldschürfer, Abenteurer aller Art, und die erste feste Siedlung soll es 1910 gegeben haben, denn es wurde in dieser Gegend immer mal an Straßen und Eisenbahnlinien gebaut, eher halbherzig. Entsprechend schnell verschwanden die Bauarbeiter wieder. Die Abenteurer blieben.
Es muss wohl im Jahr 1965 gewesen sein, als man in Moskau beschloss, die Eisenbahnlinie Richtung Osten und nach China auszubauen. Das wurde ähnlich organisiert, wie der Eisenbahnbau in den USA im 19. Jahrhundert. Die Bauarbeiter zogen mit den Baustellen weiter und in gewissen Abständen wurde eine Siedlung errichtet. Auf die Art ist Tynda als Stadt entstanden und das war 1975.
Siedlung heißt, es wurden Bauwagen zurückgelassen, man baute auch noch ein paar Holzhäuser und mehr war da zunächst nicht. Später kamen noch behelfsmäßig eine Schule und Poliklinik dazu. Heute gibt es sogar Plattenbauten.
Die Bahntrasse wurde fortgeführt, Tynda liegt an dieser Strecke, aber das Leben rollte an Tynda vorbei. Ich will nicht behaupten, dass man in Moskau die Menschen in Tynda vergessen hatte, aber sehr groß war das Interesse nicht mehr. Der Grund für das Desinteresse waren sicher die politischen Verwicklungen mit China. Am Ussuri hat es viele gewaltsame Auseinandersetzungen gegeben, im Westen meistens unbeachtet.
Die Menschen in Tynda richteten sich ein. Man ging auf die Jagd, es entstand Ackerbau und man ging Fischen. Tynda hatte im Jahr 2002 rund 60.000 Einwohner, heute sind es 35.000. Inzwischen gibt es eine intensive Holzindustrie und Tynda hat sogar einen kleinen Regionalflughafen. Aber wenn man sich Tynda auf der Karte ansieht, weiß man, wie einsam man dort lebt.
Nicht weit vom Baikal in der Stadt Chita lebt Katja, eine Nichte meiner Frau. Chita hat auch nur 85.000 Einwohner. Aber immerhin - heute gibt es in Tynda und auch Chita Internet. Ich weiß nicht, von welcher Qualität und Geschwindigkeit, aber es reicht für Emails und auch Bilder. Ich bin überzeugt, dass unsere Aufnahmen hier aus Spanien und früher aus Deutschland alle in Tynda angekommen sind.
Jetzt im August ist auf einem Folklorefestival hier in Valencia eine Tanzgruppe vom Baikal auf der Plaza de la Virgen aufgetreten. Den Stolz meiner Frau kann sich sicher jeder vorstellen.
In den letzten Tagen telefonierte Galina noch mehr als sonst, wir waren also immer über den Stand der Feier unterrichtet. So weiß ich, dass in Tynda gerade 30 Grad minus sind, ganz normal. Wenn die alten Leute wieder zu Hause sind, werden es 40 Grad sein.
Eine Sache habe ich heute Nachmittag erst erfahren. Meine Frau besitzt eine Jacke aus Rotfuchsfellen und jetzt weiß ich, dass der Mann, der jetzt gerade nach Tynda fährt, die Füchse vor einigen Jahren geschossen hat.
Es gibt in Russland viele Orte wie Tynda. Sie liegen an oder in der Nähe von Bahnlinien. Heute stehen daneben Bohrtürme und Fördereinrichtungen des Bergbaus. Auf der Strecke Perm – Jekaterinburg, oder weiter zum Baikal sieht man überall Fördereinrichtungen. Aber die Verbundenheit zur Natur, der kleine Garten mit Gemüse, die Jagd, oder das sonntägliche Pilzesammeln ist erhalten geblieben.
Es ist nicht nur die Notwendigkeit. Tradition und Notwendigkeit ergänzen sich in Russland.
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