Genaugenommen gibt es nichts Neues aus Chornaja zu berichten. Im Laufe des Jahres sind viele der Jüngeren weggezogen und noch mehr der Älteren sind gestorben. Die noch nicht zusammengesackten Grabhügel auf dem Friedhof zeigen es.
Es gibt auch weniger Kinder, nicht nur in Chornaja, auch in den Dörfern der Umgebung. Deshalb mussten einige Klassen der Schule schließen. Das Schulamt in Krasnokamsk bewilligte der Schule weniger Geld und Lehrer mussten entlassen werden.
Mein Schwager Gennadi war bisher an der Schule als Gewerbelehrer tätig. Seine Lehrerstelle war schon seit Jahren eine halbe Stelle mit halber Bezahlung. Deshalb war er für ein paar Rubel zusätzlich in den vergangenen Jahren auch noch Hausmeister.
Nun musste er gehen, auch weil er jetzt Rentner ist. Weniger Kinder, weniger Lehrer, weniger Geld und kein Hausmeister mehr. Ist in der Schule etwas zu reparieren oder renovieren, müssen die Eltern der Schüler einspringen. Auch das funktioniert ganz simpel – hast du ein Kind hier, musst du uns helfen. Willst du nicht, schicke dein Kind auf eine andere Schule. Wenn du kommst, bringe bitte auch das Material mit.
Mein Schwager hat bisher umgerechnet etwa 180 Euro verdient. Im Moment bekommt er übergangsweise 100 Euro Rente und ab Februar 75 Euro. Er ist heute 55 Jahre alt.
Wenn man sich in Russland auf etwas verlassen kann, dann sind es die Preissteigerungen. Nicht wenige Menschen denken heute mit Wehmut an die Zeiten Breschnjevs zurück, denn damals kosteten Brot, Kartoffeln, Zwiebeln und Kohl nur Kopeken.
Jetzt hat sich Gennadi als Lehrer an einer Schule in Krasnokamsk beworben und er wird die Stelle wohl auch bekommen, so hoffen alle. Er muss für das halbe Gehalt arbeiten, denn er ist Bittsteller. Im Gegenteil, so wurde ihm bei dem Vorstellungsgespräch gesagt, er solle froh sein, wenn er regelmäßig sein halbes Gehalt bekommen werde.
Krasnokamsk ist mit dem Bus eine gute halbe Stunde vom Dorf entfernt. Der Bus fährt laut Plan im Stundentakt, aber eben nur laut Plan. Gerade jetzt im Winter muss Genna froh sein, wenn der Bus überhaupt fährt. Wenn Genna den Bus versäumt und nicht pünktlich oder gar nicht zum Unterricht kommen kann, bekommt er weniger oder gar kein Geld. Den Busfahrschein muss er natürlich selbst bezahlen, gleich, ob er sein Gehalt bekommen hat.
In diesem Winter hat es schon sehr kalte Phasen mit minus 25 Grad gegeben, es ist auch schon viel Schnee gefallen und des morgens konnte man die Fährten der Wölfe um das Haus herum erkennen. Im Moment ist es milde und das Thermometer schwankt zwischen minus 10 und null Grad. Genna ist frohen Mutes, dass sein Bus immer fahren wird. Aber die kalten Phasen des Winters stehen noch bevor. Dann fährt der Bus nicht und Genna bekommt kein Geld.
Die Vorräte der Ernte vom Herbst, Kartoffeln, Sauerkraut und die marinierten Früchte werden jetzt schon vorsichtshalber gestreckt, denn es ist ungewiss, wie lange der Winter dauern wird. Der Krämerladen im Ort wird wohl einige neue Seiten in dem dicken Buch anlegen müssen. In diesem Buch wird angeschrieben und sicher steht jede Familie des Dorfes in diesem Buch.
Zu Beginn unserer Ehe habe ich mich über die Sammelwut meiner Frau gewundert. Nichts wurde weggeworfen, kein Stück Kartoffel war klein genug, dass man es nicht aufheben konnte. In der Küche haben wir Gas und anfangs benutzten wir Streichhölzer. Die halb abgebrannten Reste der Streichhölzer hat meine Frau säuberlich gestapelt. Bis ich ihr dann im Supermarkt gezeigt habe, wie viele Streichhölzer es dort gibt. Dann endlich hat sie die Streichholzreste weggeworfen.
Mein Großvater konnte auch nichts wegwerfen, kein Nagel war krumm genug, kein Stück Bindfaden kurz genug, um es wegzuwerfen. Ich habe das von ihm übernommen. So gesehen ist das Verhalten meiner Frau nichts Neues für mich.
Galina hat mir gerade über die Schulter geblickt und mir etwas aufgetragen. Chornaja, der Name des Dorfes, bedeute Schwarz und das müsste ich unbedingt schreiben. Das Leben in diesem Dorf sei schwarz und hoffnungslos.
Detlev