Moskau vor 25 Jahren

Wie lebt es sich in einer "Zwei Kulturen - Ehe"? Wie sind die Russen? Wie sieht der Alltag aus und vieles mehr...

Moskau vor 25 Jahren

Beitragvon detlevwalther (Detlev Cr.) » 30. Oktober 2010, 21:41

Mitte Januar, 17 Uhr Ortszeit, landete die Maschine der Aeroflot auf dem Flughafen Sheremetjevo in Moskau. Die Maschine setzte auf, ruckelte etwas und kam leicht schlingernd zum Stehen.

Mit einer Papierserviette wischte ich über die beschlagene Scheibe des Kabinenfensters und sah an den flackernden Positionslichtern vorbei auf den zugeschneiten, in fahles, grauweißes Dämmerlicht getauchten Flughafen. Die Triebwerke heulten erneut auf, die Maschine wendete und rollte dem Lotsenfahrzeug folgend an einer langen Reihe niedriger, in grelles Scheinwerferlicht getauchte Gebäude vorbei bis zur Parkposition gegenüber dem Terminal. In blauer Neonschrift stand am Flughafenterminal Internationaler Airport Sheremetjevo. Die Cabin Crew öffnete die vordere Tür der Maschine und ein Schwall kalter Luft strömte in die Kabine.

Ich verließ als einer der Ersten das Flugzeug und betrat die Gangway. Bis dahin hätte es jeder beliebige Flughafen im Norden Europas während eines sehr kalten Winters sein können. Nur der Schützenpanzer und die Soldaten mit dem roten Stern an ihren Pelzmützen und den Sturmgewehren vom Typ AK 47 quer über den Rücken passten nicht zu einem zivilen Flughafen. ‘Jetzt weißt du wo du bist, du bist in der Sowjetunion’, dachte ich.

Soldaten. Mehr Soldaten als Passagiere. Ich ging vorsichtig über den rutschigen Asphalt zum Bus. Soldaten standen neben der Maschine, unter der Maschine, neben der Gangway, säumten vergleichbar einem Spalier den Weg zum Bus. Die Rotarmisten trugen ihre Kalaschnikows mit den sichelförmigen Magazinen schräg über den Rücken geschnallt, die Gewehrmündung nach unten zeigend. Sie erinnerten mich an die Soldaten in Güstrow, wenn sie aus ihren Kasernen kamen und durch die Stadt zum Schießplatz marschierten. Aber das war 1950 und ich war noch ein kleiner Junge.

Das war mein erster Eindruck von Moskau, damals im Januar 1988. Das ist lange her und heute wird man nicht mehr von schwer bewaffneten Soldaten empfangen. Damals war die Zeit des Kalten Krieges, Präsident Reagan hatte Moskau als 'Hort des Bösen' bezeichnet und die Rote Armee stand mit mehreren Divisionen in der DDR.

Gorbatschow war in der UdSSR gerade an die Macht gekommen. Alles was mit Russland zusammenhing, war für die Deutschen interessant, auch wenn der Kalte Krieg noch nicht überwunden war und nicht jeder Glasnost und Perestroika traute, nicht im Westen und schon gar nicht im Osten.

Mit seinen Vorstellungen von Perestroika und Glasnost brachte Gorbatschow nicht die Demokratie nach Russland, dafür aber vielen Menschen Not und Ungewissheit. Es ist nicht fair, ihm alles anzulasten, was in jener Zeit in der UdSSR geschah. Den Beginn der unsicheren Zeiten, die schwierige Wirtschafts- und Versorgungslage, der Absturz der Supermacht UdSSR zu einem drittklassigen und hungernden Dritteweltland verbinden auch heute noch viele Menschen in Russland mit seinem Namen. Während Gorbatschows Amtszeit konnte es geschehen, dass Matthias Rust mit einer geklauten Cessna ungehindert den Raketenschutzschirm überwand und hinter dem Roten Platz landete. Das entspricht zwar so nicht der Wahrheit, er war ab Grenze in Begleitung zweier Abfangjäger, aber so wurde es von der Öffentlichkeit in Ost und West wahrgenommen. Und im gleichen Zeitraum musste man den Raketenschutzschirm Moskaus ganz außer Betrieb nehmen, weil die Elektrizitätswerke den Strom wegen unbezahlter Rechnungen abschalteten. Gehälter in den Fabriken wurden nur unregelmäßig oder gar nicht gezahlt – viele Menschen hungerten. Am 7. Januar 1990 bat Gorbatschow den deutschen Kanzler Kohl um Lebensmittelhilfe für Russland. Kanzler Kohl sagte sofort zu, weil er die Lebensmittelhilfe im Zusammenhang mit der zum Greifen nahen Wiedervereinigung Deutschlands sah. Im Jahr 1991, im letzten Jahr der Amtszeit Gorbatschows und der Existenz der Sowjetunion, begann sehr diskret und von der Öffentlichkeit kaum beachtet, der Ausverkauf Russlands.

Solche und ähnliche Ereignisse waren es, die die öffentliche Meinung des damaligen Russlands prägten, und viele Russen haben Gorbatschow bis heute nicht verziehen. Man hat zwar auch an Jelzin keine guten Erinnerungen, aber von ihm hatte man wohl auch nichts anderes erwartet. In einem Fernsehinterview fragte ein Journalist Jelzin, wo die vielen Milliarden Kredithilfe aus dem Westen geblieben seien. Er hat nur mit den Schultern gezuckt und geantwortet, das wüsste er auch nicht.

Im Herbst 1987 fragte mich ein Geschäftspartner, ob ich nicht Lust hätte, in Hannover einige russische Geschäftsleute zwecks Gedankenaustausch zu treffen. Sehr bald kam dann der Vorschlag - komm nach Moskau. Und nun, Januar 1988, war ich in Moskau, war nicht mehr auf die nur selten objektiven Berichte der Zeitungen und des Fernsehens angewiesen.

Ich beschreibe Moskau, wie ich vor 25 Jahren diese gigantische Stadt erlebte. Es bleiben immer Momentaufnahmen, kurze Episoden, denn diese Stadt, beinahe ein Staat innerhalb des größten Flächenlandes der Erde, kann man nicht in ein paar Wochen oder Monaten begreifen. Vielleicht können wir aus dem Westen das nie. Russland war immer ein sehr widersprüchliches Land, ist es auch heute noch.

Kälte ist nicht das richtige Wort für das, was mich auf dem kurzen Stück zum Bus erwartete. Es war ein trockener, extremer Kälteschlag, die Luft klirrte, schnitt in die Gesichtshaut, meine Lungen protestierten, meine Nase verkrustete sofort, meine Ohren schmerzten.

Der Beamte der Passkontrolle nahm mit unbeteiligtem Gesichtsausdruck einen genauen Abgleich meiner Gesichtszüge mit dem Passbild in meinem Pass und im Visum vor. Er 'scannte' mich. Das Visum war nicht in den Pass gestempelt, es war ein separates 3-teiliges graues Blatt Papier. Er machte nicht eine einzige überflüssige Bewegung. Ein Blatt riss er ab, 2 der Blätter erhielt ich zurück, nachdem er alles gestempelt hatte. Sein Gesicht hatte sich nicht ein einziges Mal verzogen bei dieser ziemlich langen Prozedur. Zum Schluss machte er eine schiebende Handbewegung, so als ob er mich weiter schieben wollte.

Die Empfangshalle des Terminals war nur unzureichend beleuchtet, niedrig, gelb und rotbraun gestrichen. Unter der Decke hingen dicke Rohre der Klimaanlage, Elektrokabel hingen bogenförmig runter. Mein Koffer wurde geröntgt, ich musste nichts öffnen. Ich nahm mein Gepäck in Empfang und verließ das Terminal.

Der deutsche Geschäftsführer der Moskauer Außenstelle einer im Rheinland ansässigen Exportfirma, ich nenne ihn hier Wilhelm, holte mich ab. Er sah mich nur kurz an und meinte trocken: Du brauchst eine Mütze, sonst fallen dir die Ohren ab. Wie Recht er hatte! Ich fasste mir ab und zu an die Ohren, um zu fühlen, ob sie noch fest am Kopf sassen. Meine erste Station am gleichen Abend war deshalb das Kaufhaus GUM, wo ich eine lebens- und ohrenrettende Pudelmütze verpasst bekam.

Wilhelm fuhr für einige Tage einen Volvo. Meinen Mercedes habe ich nach Helsinki zur Inspektion fahren lassen, erklärte er beinahe entschuldigend. Wir haben hier in Moskau keine Mercedes-Werkstätten. Die hiesigen Werkstätten können das nicht.

Nach dem Kauf der Pudelmütze brachte er mich ins Hotel. Die Straßen waren gesäumt von den typischen Plattenbauten, Chruschtschow-Häuser genannt. Chruschtschow hatte diese Wohnblöcke für 30 Jahre Lebensdauer gebaut. Dann sollte der Sozialismus endgültig über den Rest der Welt gesiegt haben, dann wollte man endgültig für die sowjetische Ewigkeit bauen. Chruschtschow lag schon lange auf dem Friedhof des Neujungfrau-Klosters, die Wohnblöcke standen immer noch, wenn auch nicht mehr in allerbestem Zustand, und der Sozialismus war hinter dem Horizont versunken.

Von weitem sah ich das Außenministerium, eine der Stalinschwestern, zu Stalins Zeiten im so genannten Zuckerbäckerstil gebaut. Es gibt sieben solcher Gebäude in Moskau, das Außenministerium ist das größte. Ab und zu überholten wir einen Trolly-Bus. Auf den verschneiten Bürgersteigen sah ich Menschen mit Schlitten, Kinder spielten im Schnee. Wegen der extremen Kälte haben die Schulen schon einige Zeit geschlossen, erklärte Wilhelm.

Das Hotel war ein 36-Stockwerke hoher Bau im südlichen Teil Moskaus. Das Einchecken war ein komplizierter Vorgang. Die Schlange der Neuankömmlinge war nicht so lang, nur etwa 10 Personen, aber an der Rezeption war eine ähnlich aufwendige Gesichtskontrolle, wie ich sie bereits im Flughafen hinter mich gebracht hatte. Formulare mussten ausgefüllt werden. Die Formulare gingen durch die Hände mehrerer Personen hinter der Rezeption, die in dicken Kladden Notizen eintrugen, immer wieder mit meinem Pass verglichen. Die letzte Frau riss ein weiteres Blatt vom Visum ab, der verbleibende 3. Teil wurde nochmals gestempelt und in meinen Pass geheftet. Müsste ich immer bei mir tragen, wurde mir gesagt.

Ich fuhr mit dem Fahrstuhl in den 15. Stock. Die Aufsicht auf der Etage, Administrator genannt, eine ältere Frau in einem uniformähnlichen Kostüm, musterte mich, lächelte etwas, ich lächelte zurück, sie gab mir meinen Zimmerschlüssel. Endlich mal jemand, der lächelt, dachte ich. Schweigend wies sie auf einen Gang, dem ich bis zu meinem Zimmer folgte. Das Zimmer war klein und etwas staubig, der Fußboden war graues ziemlich durchgetretenes Linoleum, es roch nach Desinfektionsmitteln. Es war heiß im Zimmer, die Heizung lief mit voller Stärke. Es gab keine Ventile und die Fenster ließen sich nicht öffnen. Im oberen Teil eines Fensters fand ich eine defekte Scheide, die ich zur Seite schieben konnte. Aber das Bad war gut, nicht großartig, aber es gab fließend warmes und kaltes Wasser.

Das Frühstück am nächsten Morgen war überwältigend, unmöglich, alles zu essen. Was auf der Anrichte stand, war ein Querschnitt durch die Vielfalt der gesamten russischen Küche. Es musste extra bezahlt werden und kostete, umgerechnet zum Schwarzmarktkurs, etwa 35 Pfennig.

Der offizielle Kurs war 1 DM = 3,60 Rubel. Die Kellner tauschten schwarz etwa 1 zu 7-10, draußen auf der Straße erzielte man 1 zu 20, sogar 1 zu 30. Das war gefährlich, denn manche Schwarzhändler waren in Wahrheit verdeckte Ermittler der Miliz.

Die Russen nannten jede Fremdwährung Valuta und ihre eigene Währung Holzrubel. Damit wollten sie zum Ausdruck bringen, dass sie ihrem Rubel nicht vertrauten, was sich ja durch mehrere Rubel-Abstürze, der krasseste 1998, auch bewahrheitete. Als Ausländer konnte man damals in Moskau nur selten mit Rubel bezahlen. Der Rubelabsturz 1998 war so gravieren, dass einige europäische Hersteller hochwertiger Textilien wie Escada, Gardeur und Michele, um nur einige zu nennen, erhebliche Finanzprobleme bekamen. Man hatte sich zu früh auf die Stabilität des russischen Marktes verlassen.

Ich hatte mir bei meinem ersten oder zweiten Aufenthalt in Moskau ein Konto bei der Sberbank eingerichtet. Es gab bei der Bank keine Computer und natürlich keinen Anschluss an den internationalen Zahlungsverkehr. Die Kontoeinrichtung erfolgte handschriftlich in einem großen Buch, eine Art Hauptbuch. Ich bekam eine teilweise handschriftlich ausgefüllte Kontokarte ausgehändigt und zahlte 1000 Rubel ein, für russische Verhältnisse damals ein hoher Betrag. Ich habe das Heft noch, es sind 50 Rubel Guthaben drauf. Für 50 Rubeln bekommt man heute nicht mehr viel, damals war es ein Drittel eines Monatslohns

Alex holte mich im Hotel ab und wir fuhren zum Ölministerium, zuständig für den Bau und die Instandhaltung der Förder-, Lager- und Transporteinrichtungen. In jenen Jahren war es nichts Außergewöhnliches, mit einem Ministerium oder einem Minister zu tun zu haben – es gab sehr viele Ministerien. Es gab separate Ministerien für Milchwirtschaft, für Ackerbau, Fischerei usw. Entsprechend groß war die Anzahl der Minister und jeder hatte mehrere Stellvertreter. In Moskau sagte man damals: Wir haben auch ein Ministerium für Zaunbau. Die eigentliche Macht lag nicht bei den Ministerien, sondern beim Ministerrat, dem Politbüro und beim Gosplan.

Die Empfangshalle des Ministeriums war groß, Marmorboden, an der Decke weißer Stuck, an der Seite eine lange Rezeption aus dunklem Holz, gegenüber eine ebenso lange Garderobe. In der Mitte der Empfangshalle stand ein Springbrunnen mit einer Weltkugel in der Mitte. Der Pförtner am Eingang prüfte genauestens meinen Pass und das dort eingeheftete Visum. Das Personal, Männer wie Frauen, war deutlich über 60 Jahre alt. Alle trugen braun-grüne militärisch aussehende Uniformen, die linke Brustseite vom Kragen abwärts mit langen Ordensreihen behangen. Kriegsveteranen, erklärte man mir.

Nach den Besprechungen vormittags gab es Mittagessen. Das Ministerium hatte mehrere Kantinen unterschiedlicher Größe und Ausstattung, je nach Wichtigkeit und Position der zutrittsberechtigten Mitarbeiter. Die letzte obere Stufe hieß dann auch nicht mehr Kantine, sondern Kasino. Die sozialistische Gleichmacherei hatte ihre Grenzen, mindestens in der Kantine.

Nachmittags und abends war 'Kulturprogramm' angesagt. Meine Gastgeber waren sehr um mein Wohlergehen bemüht. Es gab Empfehlungen, was ich unbedingt sehen müsste - Bolschoi-Theater, Moskauer Staatszirkus, Fernsehturm, Besuch des Friedhofs des Neujungfrau-Klosters, wo jeder lag, der zu Lebzeiten von Rang war, Stadtrundfahrten. Abends dann Bewirtung in einem Restaurant oder in einem der Gästehäuser des Ministeriums.

Besonders die abendlichen Bewirtungen, Bankette genannt, konnten stressig werden, denn sie waren immer mit ausgiebigen Trinkgelagen verbunden. Und es war schwer, nein zu sagen. Schwer deshalb, weil die Menschen, mit denen ich näheren Kontakt hatte, sehr herzlich waren. Rotwein, Weißwein von der Krim, armenischer Kognak, Wodka in den verschiedensten Farben, klar wie Wasser, Zitronenwodka, Pfefferwodka, oder mit Zusätzen wie Waldbeeren, Tannenzapfenkernen, um nur ein paar Getränke zu nennen. Dazwischen Teetassen und der obligatorische Samowar.

Dann die Trinksprüche. Dauernd stand einer der Gastgeber auf, brachte einen Trinkspruch aus - auf unser gemeinsames gutes Gelingen – Nastrovje - auf die Frauen, auf die Liebe, auf die Völkerfreundschaft, auf die Freundschaft an sich - Nastrovje. Dann war ich dran - auf die sowjetische Freundschaft, danke für die Gastfreundschaft - auf die Frauen, auf die Liebe – Nastrovje. Und das Ganze immer reihum, bis ich Sehstörungen bekam und froh war, ins Hotel zu kommen. Ein Glück nur, dass russische Speisen ziemlich fetthaltig sind.

Gelegentlich traf ich Wilhelm und wir gingen essen. In jedem Restaurant saß am Eingang der Administrator, der die Plätze zuwies. Haben sie reserviert? Nein? Bedaure, nichts frei. Das Lokal war deutlich sichtbar gerade mal zur Hälfe besetzt. Wilhelm legte 1 oder 2 Schachteln Marlboro auf den Tisch und sagte: Unsere Registrierung. Wir bekamen immer einen Platz. Marlboro war die Währung für alles, was nicht Standard war, oder von irgendwem zugeteilt wurde.

Viele Cafés und Restaurants waren geschlossen, aus technischen Gründen hieß es. Tatsächlich hatten sie keine Getränke oder Lebensmittel vorrätig, Mangelwirtschaft. Viele Cafés boten wirklich nur Kaffee an, weil man mit dem, was da unter der Bezeichnung ‚Wasser’ aus der Leitung kam, nur bittereren Kaffee kochen konnte. Manche Restaurants ließen nur Gäste mit Devisen rein, vor anderen wiederum standen so lange Schlangen, dass ich schon weiter gehen wollte. Sobald uns der Türsteher entdeckte und uns treffsicher als Westler erkannte, wurden wir an der Schlange vorbei gewunken und bekamen die besten Plätze. Solche und ähnliche Situationen passierten mir immer wieder. Manchmal war diese Bevorzugung aufdringlich, fast peinlich.

In einem sehr imposanten Lokal direkt am Roten Platz, ein Eckhaus oben im 8. Stock, Stuckdecke, Parkettboden, Ölbilder an der Wand, wurde kein Alkohol ausgeschenkt. Die überwiegend russischen Gäste brachten ihre Flaschen in Zeitungspapier eingewickelt mit und feierten hier ihre Bankette. Sie feierten überall, auch in den großen Hotels, wenn sie das Geld dazu hatten. Gelegentlich fiel dann ein Gast zwischen die Essensreste auf dem Tisch und schlief dort oder unter dem Tisch ein.

An einer breiten Straßen habe ich einmal einen Betrunkenen beobachtet, der es gerade noch bis zum verschneiten Mittelstreifen geschafft hatte und dort, bewacht von einem den Verkehr regelnden Miliz-Soldaten, liegen geblieben war. Ich will hier nicht den Eindruck erwecken, dass das der Standard ist, aber es passiert und man denkt sich nicht viel dabei. Zumindest regt sich niemand groß auf, man ignoriert es, ist vielleicht toleranter als wir. Was soll’s – nur wer alleine trinkt ist ein Säufer - nach russischer Vorstellung.

Manchmal schaffte ich es, mich zu verdrücken und alleine durch die Stadt zu laufen. Oft wurde ich von Russen angesprochen, die in mir sofort den Ausländer erkannten. Manche wollten neugierig nur wissen, wer ich sei, was ich in Moskau täte und wo ich herkäme. Wenn ich sagte, ich sei Deutscher, sagte man sofort GDR (DDR), war sehr überrascht, wenn ich das zu BRD korrigierte. Gelegentlich wurde ich auch von jungen Frauen angesprochen, deren äußere Aufmachung eindeutig auf ihr Gewerbe schließen ließ. Aber das kam selten vor. In Köln, Düsseldorf oder Berlin wird man auf der Straße sehr viel häufiger angesprochen.

Der Rote Platz mit seinen Besuchern war damals das Spiegelbild aller Völker und ethnischen Gruppen der Sowjetunion. Jeder Bürger der UdSSR musste hier mal gewesen sein, so wie jeder Katholik im Vatikan und jeder Moslem in Mekka. An den vielen Sprachen, am Gesichtsschnitt und an der Kleidung konnte man ahnen, wo sie herkamen. Besondere Aufmerksamkeit fanden natürlich immer das Leninmausoleum, der Wachwechsel und die große Tribüne, die im Westen von den Maiparaden aus dem Fernsehen bekannt ist. Aber auch hinter den Kremlmauern, die Museen waren immer überfüllt. Stark besucht war auch das Grabmal des unbekannten Soldaten an der Kremlmauer. Fast jede Familie in der Sowjetunion hatte während des Krieges Tote zu beklagen. Trotzdem habe ich mir als Deutscher nicht ein einziges Mal irgendwelche negativen Bemerkung anhören müssen, Bemerkungen, die man bei unseren westlichen Nachbarn wie Niederlande oder auch gelegentlich in Frankreich durchaus zu hören bekommt.

Das Wetter machte wilde Sprünge. Nachts konnte die Temperatur auf -20 Grad fallen, tags war es dann plötzlich +2 oder +3 Grad. Diese kurzen Wärmeperioden waren unangenehm, denn die Bürgersteige verwandelten sich in eine Wasser-Eis Rutschpartie, noch dadurch verstärkt, dass die Regenabflussrohre an den Hauswänden in Kniehöhe endeten und von dort Schmelzwasser wie ein Wasserfall herunter schoss. Die Schuhe und Stiefel der meisten Menschen sahen nicht sehr wetterfest aus. Nach 2 Tagen einer Warmperiode sah man kaum jemanden ohne Triefnase. Dazu kam das dichte Gedränge in den Bussen und Bahnen, wo sich die Erkältungen epidemisch vervielfältigten. Ein weiterer Grund für die Erkältungsschübe war sicher auch, dass es kaum Gemüse oder Früchte gab. Kartoffeln, Knoblauch, Zwiebeln und Sauerkohl waren die wesentlichen Lebensmittel.

Jeder russische Haushalt versucht sich im Sommer und Herbst mit den notwendigen Vorräten einzudecken. Weißkohl wird zu Sauerkraut, Gurken, Pilze und Obst werden mariniert, aber es reicht meist nicht über den Winter. Dann fehlen den Menschen die körpereigenen Abwehrkräfte und als Ersatz werden in großen Mengen Antibiotika wie bei uns Hustenbonbons geschluckt.

Im Hotel gab es abends für die Gäste reichlich zu essen, große Portionen für wenig Geld. Die Kellnerinnen hatten neben den Türen zur Küche Plastiktüten stehen. Wenn sie die halbleeren Teller der Gäste in die Küche zurück trugen, machten sie Halt an ihren Tüten und leerten die Reste von den Tellern in die Tüten. Lebensmittel für die Familie.

Die Kellner standen meist an den Tischen der ausländischen Gäste und handelten mit all den Dingen, die sie wohl aus dem Vorratslager hatten mitgehen lassen. Wodka, Zitronen- und Pfefferwodka, Kaviar in Dosen. Die Frauen, die Kellnerinnen, waren diejenigen, die rannten und die Gäste bedienten.

Spät abends, wenn der Administrator gegangen war, saß ich oft mit dem Bedienungspersonal zusammen, dann stand auch schnell Wodka oder Kognak auf dem Tisch. Da wurde gesungen, ich kannte noch ein paar Soldatenlieder aus meine Jugend, und es wurde sehr viel über Politik debattiert und ich hörte, wie unbeliebt Gorbatschow war.

Unter Breschnjew mussten wir den Mund halten, aber wir hatten etwas im Kochtopf. Unter Gorbatschow können wir sagen, was wir wollen, aber unsere Familien hungern. Das sagte die Kellnerin Viktoria, die recht gut Englisch sprach und eigentlich Pianistin war. Als Pianistin fand sie keinen Job, und weil sie ihre Kinder irgendwie durchbringen musste, arbeitete sie im Hotel. Ihr Mann Viktor war Mathematiker und arbeitete ebenfalls als Kellner.

Olga brachte mir das Rechnen mit dem Abakus bei, diesem Holzkugelgerät, früher ein Spielzeug unserer Kinder. Den Abakus trug sie an einem Band an ihrer Schürze. Ich wollte den Abakus gegen meinen Taschenrechner eintauschen, aber Olga wollte nicht, vertraute mehr ihren Holzkugeln und ich gebe zu, so schnell wie sie auf ihrem Abakus, war ich mit meinem Taschenrechner nicht. Ich wollte ihr meinen Taschenrechner schenken, aber sie wollte ihn nicht annehmen, glaubte, dass Geschenk verpflichte sie zu Gegenleistungen.

Die Chefin der Kellnerinnen hieß Larissa, eine lebenslustige Frau um die 40, oft in einem ein wenig zu engen Glitzerkleid. Larissa sprach ebenfalls gut Englisch. Sie wollte mich immer für den Salzfisch begeistern, der nach meinem Empfinden nur aus Salz und Gräten bestand, aber eine hervorragende Grundlage für den Wodka abgab.

Es waren feucht-fröhliche Abende, die ich dort erlebte. Ich lernte an diesen Abenden viel über Russland, sie erzählten mir von ihren Familien, von ihren Problemen. Die meisten hatten ein oder mehrere kleine Kinder zu Hause und selten einen Mann, den sie in aller Regel aber nicht wirklich zu vermissen schienen. Meine Kinder reichen mir, ich brauche nicht auch noch einen Mann, vertraute mir Larissa an. Männer sind wie kleine Kinder oder schlimmer, machen viel Arbeit und bringen nichts nach Hause, sagte sie kategorisch, eine Meinung, die ich oft von Frauen in Russland hörte.

Sie erzählten von ihren Wohnverhältnissen, oft Kommunalwohnungen, Wohneinheiten mit zentraler Küchen- und Sanitäreinrichtung. Bei uns nennt man das Wohngemeinschaft, aber man wohnt in einer WG als Student, zeitlich begrenzt. In Russland war es eine Standardeinrichtung und vor allen Dingen eine Dauereinrichtung. Aber auch in separaten kleinen Wohnungen waren die Verhältnisse kaum besser.

Da war die Großmutter, die Babuschka, unverzichtbar, denn sie sorgte für die Kinder, wenn die Mutter mit dem Ran-Schaffen der paar Rubel beschäftigt war. Da wohnte in der gleichen Kommunalwohnung noch der Mann, von dem man inzwischen bereits geschieden war, da wohnte vielleicht schon der neue Mann, mit dem man zwar noch nicht verheiratet war, mit dem man aber schon ein Kind hatte. Die Zahl der Abtreibungen hatte Rekordhöhe und die der gewalttätigen, oft alkoholbedingter Auseinandersetzungen innerhalb der Familien auch.

Glücklich waren die Familien, die eine Großmutter hatten, eine Babuschka, denn sie war der Garant dafür, dass die Kinder nicht zu früh in den Kinderhort mussten. Es war ein deprimierender Anblick, viele Frauen sehr früh morgens mit ihren kleinen Kindern zum nächsten Kinderhort rennen zu sehen.

Eine sowjetische Besonderheit waren die Bezugsscheine, Talon genannt, eine Voraussetzung für die Planwirtschaft. Die Talons hat es immer gegeben, mal für mehr, mal für weniger Bereiche des täglichen Lebens.

Die Talons haben einige Merkwürdigkeiten hervorgebracht. Da wollte zum Beispiel ein Paar heiraten, es gab aber weder Brautkleider, noch dunkle Anzüge, noch Porzellan zu kaufen, nicht einmal Bettwäsche gab es ohne Talon. Also ging man zum Standesamt, bekam Talons für die notwendigen Heiratsutensilien, kaufte für die Hochzeit ein und heiratete. Oder man brauchte nur Porzellan, wollte gar nicht heiraten. Also geht man zum Standesamt..… siehe oben. Dann kaufte man Porzellan, aber keine Hochzeitskleidung und nach 3 Monaten ging man zum Standesamt und sagte, man hätte es sich anders überlegt.

Es gab auch Talons für Wodka. Der Verkauf war zusätzlich noch dadurch reglementiert, dass es nur an bestimmten Wochentagen und auch nur in bestimmten Geschäften Wodka zu kaufen gab. Der Ansturm auf diese Geschäfte war gewaltig, bis hin zu Prügeleien und niedergetretenen Menschen. Natürlich hat es früher bei uns zum Winter- oder Sommerschlussverkauf auch Anstürme gegeben, aber verglichen mit dem Wodka-Verkauf kann man das wohl eher als deutsche Folklore bezeichnen.

Im Kaufhaus GUM oder auch in den Supermärkten war interessant zu sehen, was es alles nicht gab. In den großen Kühltheken der Lebensmittelabteilungen lagen nur wenige Hühner oder Teile von Hühnern oder sonstige Fleischstücke, die Regale waren leer. Einmal habe ich Sahnetorten gesehen, ein ganzen Geschäft, nur Sahnetorten. Wer weiß, welcher 5-Jahresplan die Torten produziert hatte.

Etwas abseits der Zentren bildeten sich unerlaubte freie Märkte, wo alles verkauft wurde, was sich zu Geld machen lies. Die Russen stellten einfach ein paar Kisten und Karren als Tische auf und handelten. Weitere kamen dazu, schon war ein Markt entstanden. Die Miliz kontrollierte zwar, aber ein paar Rubel - und die Miliz sah großzügig über alles hinweg. Hier gab es alles. Hausrat, Bücher, alte Schallplatten, in kleine Tüten und Behälter abgefüllte Seifen und Waschmittel, volle wie auch nahezu leer gedrückte Zahnpastatuben, marinierte Lebensmittel, Knoblauch und Zwiebel, alles was sich in kleinen Mengen verkaufen ließ.

Sehr gefragt von der russischen Damenwelt waren Plastiktüten aus dem Westen. Die Tüten wurden für etwa 15 Rubel gehandelt, je nach dem, ob sie zusätzlich einen Werbeaufdruck von irgendeiner westlichen Modefirma trugen. Eine Tüte mit einem Aufdruck von Escada war ein beinahe unbezahlbarer Luxus. Eine russische Frau wird auch nach längerem Aufenthalt im Westen eine Plastiktüte nur dann wegwerfen, wenn sie total zerfleddert ist. Sie wird auch immer eine Plastiktüte oder einen Stoffbeutel in der Handtasche bei sich tragen, ihre Schnäppchentasche. Man weiß ja nie, ob man nicht ganz unverhofft etwas kaufen kann, was bisher immer vergriffen oder zu teuer war, was man schon lange gesucht hat.

Ebenso ein fast unbezahlbarer Schatz waren die Burda-Hefte und Schnittmuster, die mit dem langsam einsetzenden Reise- und Geschäftsverkehr von West nach Ost auftauchten. Ein erheblicher Teil der damals auf den Straßen und in den Büros getragenen russischen ‚Haut-Couture’, geschneidert auf den vielen heimischen Nähmaschinen aus japanischer und DDR Produktion, hatten ihren Ursprung in den Burda-Heften und Schnittmustern.

1987 erschien Aenne Burdas Modeheft als erste westliche Zeitschrift in russischer Sprache. ‚Sie haben mehr geleistet als drei Botschafter zuvor’ und das hat kein geringerer als der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher zu Aenne Burda anlässlich eines Festaktes gesagt.

Das Einkommen der Russinnen in den Büros lag bei monatlich rund 100 bis höchstens 200 Rubel. Ausländische Firmen zahlten oft auch noch ein paar Devisen zusätzlich. Die Kopeke war damals noch etwas wert, gezahlt wurde mit Kopeken, U-Bahn, öffentliche Telefone, ein Brot – alles kostete Kopeken.
Kosmetik wurde aus syrischer Lizenzproduktion mit französischen Namen importiert und wohl jede Russin, die etwas auf sich hielt, gab einen erheblichen Teil ihres Einkommens für Kosmetik aus. Die kleinen Dessous aus schwarzer Spitze gaben es nur für sehr viel Geld, meist nur gegen Devisen und waren eigentlich unerschwinglich. Da brauchte es schon die Freundin, einer Freundin, einer Freundin, die eine Kusine in einer westlichen Botschaft hatte. Kusinen sind auch heute noch ein wesentlicher Bestandteil des weiblichen Daseins in Russland.

In den Straßen am Denkmal des Fürsten Yuri Dolgoruki, dem Begründer Moskaus, fanden sich immer kleine und größere Gruppen zusammen, überwiegend Männer, die ihrer Lieblingsbeschäftigung nach gingen – sie debattierten, hitzig und engagiert. Welche Themen? Egal, Hauptsache man war dagegen. Hier wurden Flugblätter verteilt, in denen die Abschaffung oder Errichtung oder Änderung aller möglichen staatlichen und nicht staatlichen Institutionen lautstark verlangt wurde. Man würde, könnte, sollte, es wäre besser, vielleicht – aber bitte bloß nicht konkret werden.

Die Miliz patrouillierte langsam und gemessen zwischen den Diskussionsgruppen. Wenn die Miliz in der Nähe war wurde leiser diskutiert, man war vorsichtig, wusste nicht so genau einzuschätzen, wie weit die neuen Freiheiten gingen. Aber die Miliz hielt sich aus allem raus, alleine ihre Anwesenheit sorgte für Ruhe und Ordnung.

Es gibt eine sehr typische Geschichte noch aus der Zarenzeit. Da wird der Polizeichef einer fernen sibirischen Provinz gefragt, wie er es eigentlich anstelle, in den weit entfernten Regionen seines Zuständigkeitsbereiches für Ordnung zu sorgen, da sei er doch Tage und Wochen mit dem Schlitten unterwegs. Der Polizeichef antwortete: Ich muss nicht hinfahren, ich schicke nur meine Mütze hin. Der Respekt der Russen vor Polizei und Obrigkeiten, ist unübertroffen.

Im festen Haus des Moskauer Staatszirkus gab es neben den Tier- und Akrobatennummern die Clowns. Im Westen amüsieren die Clowns das Publikum mit sich-gegenseitig-mit-Wasser-bespritzen oder vom-Stuhl-kippen. Die russischen Clowns zogen vor allen Dingen die Politiker durch den Kakao und das nicht erst seit Gorbatschow. Die Clowns hatten immer eine gewisse Narrenfreiheit, wohl deshalb, weil sie auch im Westen sehr populär waren.

Gelegentlich besuchte ich die deutsche Exportfirma, deren Geschäftsführer mein Freund Wilhelm war. Er beschäftigte etwa 25 Mitarbeiter in seiner Firma. Seine Sekretärin war Deutsche, da gab es einen Russen, sonst nur Russinnen. Der Russe war für alle Behördengänge zuständig, er ließ Dokumente und Genehmigungen stempeln, überbrachte den Beamten Geldgeschenke und Wodka. Die Frauen machten die Büroarbeiten, hämmerten auf den Schreibmaschinen. Wilhelm sagte einmal zu mir: Die Frauen machen hier die Arbeit. Wenn ich die nicht hätte, könnte ich Morgen den Laden zumachen. Nach kurzer Überlegung fügte er hinzu: Wenn die Frauen nicht wären, könnte man Morgen Russland zumachen. Sie sorgen dafür, dass immer etwas im Kochtopf ist.

Nachdem ich mir die Namen der Metrostationen und die Linien eingeprägt hatte, war ich oft alleine unterwegs. Die Metro war immer der Stolz der Moskowiter und das zu Recht. Da nur wenige sich ein Auto leisten konnten, blieb nur der öffentliche Nahverkehr.

Die Trolly-Busse und Straßenbahnen waren immer voll. Die Schaffnerinnen waren nicht um ihren Job zu beneiden. Ständig mussten sie sich durch die übervollen Busse und Bahnen drängeln, immer auf der Suche nach Zugestiegenen. Vor der Brust trugen sie an einfachen Drahtbügel mehrere Rollen mit den tariflich unterschiedlichen Fahrscheinen und die Geldtasche. Kriegsveteranen fuhren umsonst, alle anderen zahlten wenige Kopeken, auch für lange Fahrten. In Perm haben die Schaffnerinnen auch heute noch diese Drahtbügel vor der Brust. Aber heute kostet eine Busfahrt im Stadtgebiet von Perm 18 Rubel, keine Kopeken. Für mein Guthaben bei der Sberbank könnte ich dreimal mit dem Bus fahren. Da behalte ich das Kontoheft lieber als Souvenir.

Das Ministerium hatte mir einen Wagen mit Fahrer gestellt und jeden Morgen holte mich Alex im Hotel ab. Alex sprach fließend Englisch und war vom KGB. Der Wagen war ein alter Lada mit defekter Heizung, aber er machte mich unabhängig. Gelegentlich klemmte etwas am Motor, dann hielt der Fahrer, fummelte im Motorraum mit einer Rohrzange herum, bis der Wagen wieder lief. Ich fragte Alex, was ich für unseren Fahrer tun könne. Er wünschte sich Kaugummi für seine kleine Tochter aus einem Beriozka-Laden im Hotel. In diesen Läden konnte man nur mit Devisen einkaufen, hier gab es die vielen schönen Dinge, die den meisten Russen verwehrt waren. Ich wollte mit unserem Fahrer in den Laden gehen, er sollte sich selber etwas aussuchen, aber das ging nicht. Er durfte den Laden nicht betreten, auch Alex nicht. In den Beriozka-Läden bekam man auch die typisch russischen Souvenirs wie Lackdosen, Porzellan aus Leningrad, schwarze Schokolade, Samoware und Stickereien kaufen.

Kaugummi und ein paar andere Kleinigkeiten bewirkten, dass wir nach Zagorsk fuhren.

Die Fahrt nach Zagorsk mitten im Winter führte uns durch tief verschneite Wälder, vorbei an Dörfern, an einzeln stehen Holzhäusern. Um jedes Haus herum waren schmale Streifen landwirtschaftlich bewirtschafteter Flächen unter dem Schnee zu erkennen. Dazwischen waren deutlich nicht bewirtschaftete Flächen zuerkennen. Alex erklärte, jede Familie dürfe nur einen kleinen zugeteilten Teil bewirtschaften. Und der Rest daneben? Ist doch frei, fragte ich, das sind nur ein paar Meter. Ist verboten, erklärte er mir Alex achselzuckend.

Zu Chruschtschows Zeiten war es verboten, Hühner auf dem Balkon zu halten. Niemand sollte sich einen Vorteil gegenüber seinem Nachbarn verschaffen. Erst nach seiner Amtsenthebung wurden die Vorschriften gelockert.

Zagorsk ist eine kleine Stadt von nicht einmal 100.000 Einwohnern, etwa 70 km von Moskau entfernt. Heute heißt die Stadt Sergijew Possad. Der Name Zagorsk geht auf einen unangenehmen Zeitgenossen Stalins zurück, weshalb man der Stadt Anfang der 90-ziger wieder ihren alten Namen gab. So, wie auch Leningrad wieder zu Sankt Petersburg wurde.

Gleich mit welchem Namen, Zagorsk war immer das Zentrum der russisch-orthodoxen Kirche. So sagt man in Moskau. Andere halten Kiew dafür und sicher stimmt beides. Es ist genug Platz für mehrere Zentren. Ich habe noch nie eine solche Ansammlung von Klöstern, Kirchen aller Größen und Museen auf so engem Raum gesehen. Manche Kirchen sind so klein, dass sie an sakrale Wohnzimmer erinnern. Ich war dort im Februar und es war bitter kalt. Die Kirchen waren übervoll, die Gläubigen standen dicht gedrängt. Es war warm in den Kirchen und es roch nach Weihrauch, Schweiß und Knoblauch. Die Gläubigen waren überwiegend ältere Leute, die andächtig der Predigt lauschten. Als Lenin den Satz prägte, Religion sei Opium für das Volk, könnte das hier gewesen sein.

Jede Stadt ist im Frühling oder Sommer schöner als im Winter und das nicht zuletzt deshalb, weil die Frauen dem Wetter entsprechend hübscher gekleidet sind. An solchen Wochenenden fuhr ich raus in die Peripherie, dort wo sich auf den großen freien Flächen die Menschen zum Sport, zum Federball trafen, oder auch nur in der Sonne lagen, Picknicks veranstalteten. Kleine Verkaufsstände machten dort sonntags auf, Gebäck, Textilien, Hausrat und Ähnliches wurde verkauft. Kleinkunstbühnen, Jongleure und Akrobaten, Maler boten hier ihre Exponate an. Hier lernte ich Emil Sergej kennen, einen damals schon pensionierten Architekten, der in die Malerei gewechselt war und Aquarelle verkaufte. Er war früher aus beruflichen Gründen in der gesamten Sowjetunion unterwegs und malte jetzt russische Kirchen und Klöster, die er auf seinen Reisen gesehen hatte, aber auch typisch kommunistische Bilder – Arbeiter mit Ballonmütze und erhobener Faust und im Hintergrund ein flammender Hochofen oder ein Kran. Er ist nie ein bekannter Künstler geworden, obwohl seine Aquarelle sehr schön sind. Auf dem Sonntagsmarkt stand er nur, weil seine Tochter heiraten wollte und er deshalb Geld brauchte. Seine Bilder zeigen viele Klöster und Kirchen aus allen Teilen Russlands, die kaum in einem Reiseführer zu sehen sind. Die Bilder hängen heute noch bei uns im Wohnzimmer.

Gegenüber dem Gebäude, in dem das Ölministerium residierte, stand damals ein großes Lenin-Standbild, mit ausgestrecktem Arm, in dieser typisch den Weg weisenden Haltung. Es war eines der ersten Standbilder, welches man umstürzte, damals, als die großen politischen Veränderungen das Land umkrempelten. Ich hörte kürzlich, man hätte es wieder aufgerichtet, es stände wieder an seinem alten Platz.

Aus dem Moskauer Stadtbild ist Lenin weitgehend verschwunden, aber in den entfernteren Landesteilen war man nicht so eifrig. In Perm beispielsweise steht noch heute, im Jahr 2008, im Zentrum der Stadt ein großes, mehrere Meter hohes Relief mit Lenins Profil in der Mitte, von Hammer und Sichel wie von einem Lorbeerkranz umgeben. Das ist eine Verdienstmedaille in Beton, vergeben irgendwann in den 70-zigern. Und in einem Museum in Perm stehen zwei große Bodenvasen, eine mit einem Bild von Lenin, die andere mit einem von Stalin.

Wenn man mit der Transsib Richtung Osten fährt, kommt man in den entlegener gelegenen Landesteilen an ähnlichen Überbleibseln der kommunistischen Ära vorbei, großen Standbildern Lenins aus Beton, oder Hammer und Sichel in Beton. Und am Baikal oder in Wladiwostok hat man oft den Eindruck, die Russen hätten hier gar nicht mitbekommen, was damals in Moskau geschehen ist. Die Russen sagen sich: Lassen wir mal alles so, wie es ist. Man weiß ja nie, was noch kommt. Das hat nichts mit Phlegma zu tun, es ist einfach russische Erfahrung. Viel wichtiger ist, dass wir auch Morgen etwas im Kochtopf haben und vielleicht noch einen kleinen Wodka dazu.

Der Himmel ist hoch und der Zar ist weit. So denken die Russen auch heute noch, auch wenn der Zar oft gewechselt hat und jetzt auch anders genannt wird. Die Russen haben politische Erdrutsche schon immer über sich ergehen lassen, wie man schlechtes Wetter aushält – mit Gleichmut und Geduld. Nach unseren Maßstäben sicher auch mit zu viel Geduld. Vielleicht produziert diese Geduld das Russland, die Lebensumstände in Russland, die man dann geduldig – ‚typisch russisch’ - erträgt.

Und was hat sich sonst noch in Moskau geändert? Vordergründig sehr viel, die Gebäude wachsen in die Höhe, es sind Gebäude und Hochstraßen in Planung, die an Metropolis erinnern, der Individualverkehr ist chaotisch, regelmäßig finden Exklusivmessen für Superreiche statt, die Geschäftsstraßen sind nicht wieder zu erkennen, es gibt unglaublich luxuriöse Geschäfte, man sieht sehr viel mehr hochwertige Pkw als bei uns, auffallend gut gekleidete Menschen bevölkern die Straßen. Im Winter sind die Straßen wahre Laufstege für Pelzmode. Pelze wurden immer häufig in Russland getragen, neu ist die Menge und Qualität, die man heute sieht. Und wenn der Mercedes in die Werkstatt muss, dann fährt man nicht mehr nach Helsinki, wie damals mein Freund Wilhelm, man hat für jeden PKW-Typ die passende Werkstatt in Moskau. Und umfassende Nahrungsmittelhilfen wie 1990 sind hoffentlich auch nie mehr erforderlich.

Auf den großen westlichen Modemessen, der CPD in Düsseldorf, wird inzwischen viel Russisch gesprochen. Die Einkäufer aus Russland kommen in Scharen, die Geschäfte der westeuropäischen Konfektionäre laufen hervorragend. Die Preisschilder in den Auslagen der Juweliere auf der Bahnhofstraße, der Prachtstraße Zürichs, sieht man nur noch selten in arabischer Sprache, dafür in kyrillisch. Der Rubel ist schon lange konvertierbar und Russland ist an den internationalen Zahlungsverkehr angebunden. Und heute ist jede Bank in Russland auch mit Computern ausgestattet, anders als damals, als ich mein erstes Konto einrichtete. Heute kann ich mit einer russischen EC-Geldkarte, weltweit an jedem Geldautomaten Bargeld abheben und umgekehrt mit einer deutschen EC-Karte auch in Russland.

Geändert hat sich, dass die Russen heute wissen, was sie entbehren. Sie sehen die Angebote in den Schaufenstern, können die Waren mehrheitlich nicht kaufen, denn die wirtschaftlichen Unterschiede sind extrem geworden. Es ist immer noch eine Mangelgesellschaft, so wie früher, aber den meisten Russen ist das inzwischen auch bewusst. Das auch deshalb, weil der Russe, wenn er denn reich geworden ist, das auch hemmungslos zeigt. Neben diesem demonstrativ gezeigten Luxus sieht man eine Armut, die früher so nicht zu sehen war. Wenn man nicht ganz aus Stein ist, tut es weh zu sehen, wie alte Menschen oder Mütter mit kleinen Kindern sich an den Auslagen vorbei drücken oder auf den Mittelstreifen der breiten Ausfallstraßen nach Pilzen und Beeren suchen. Das ist nicht der Normalfall, aber es gehört auch zur russischen Realität.

Manchmal scheint es, als ob man mit der Abschaffung des Sozialismus und der Sowjetunion den Kapitalismus in Russland neu erfunden und auch noch perfektioniert hat.

Die Sowjetunion gibt es nicht mehr. Die neuen Fassaden sind bombastisch, der Flughafen Sheremetjevo ist verglichen mit 1988 zum Konsumtempel mutiert und nicht wenige westliche Industriezweige leben heute überwiegend vom russischen Markt. Aber die Menschen sind die Gleichen geblieben und das ist wichtig. Sie sind auch heute noch genauso herzlich und aufgeschlossen wie damals und auch heute suchen sie nichts anderes, als ein bisschen Glück, Zufriedenheit, Anerkennung und Respekt, damals wie heute, nicht anders als wir. Nur das zählt, nicht die Fassaden.

Kürzlich war ich mit meiner Frau Galina in Zürich, wollte ihr in der Spiegelgasse das Haus zeigen, wo einst Lenin lebte, bevor ihn der deutsche Generalstab in einem plombierten Eisenbahnzug quer durch Deutschland nach Petrograd schaffte, damit er dort seine vom kaiserlichen Deutschland unterstützte Revolution anzetteln konnte. Ich habe das Haus nicht gefunden, die Gedenktafel war verschwunden, mir fiel die Hausnummer nicht ein und keiner der Passanten konnte uns das Haus zeigen. Es ist die Hausnummer 14 wie ich jetzt weiß.

Ich hoffe, dass die Gedenktafel nur zur Restauration abgenommen wurde und man bald wieder sehen kann, dass Lenin dort gelebt hat. Das gebietet der Respekt vor der Geschichte. Das gilt nicht nur für die Russen, das gilt auch für uns.

Detlev Crusius
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detlevwalther (Detlev Cr.)
 
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Re: Moskau vor 25 Jahren

Beitragvon maik0412 (Maik Sc.) » 21. November 2010, 19:13

Vielen Dank und Respekt für diesen Beitrag. Der uns auch zum Nachdenken bringt...
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maik0412 (Maik Sc.)
 
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