Katja und ihre Findelkinder

Wie lebt es sich in einer "Zwei Kulturen - Ehe"? Wie sind die Russen? Wie sieht der Alltag aus und vieles mehr...

Katja und ihre Findelkinder

Beitragvon detlevwalther (Detlev Cr.) » 26. Oktober 2010, 22:54

Katja ist meine Schwiegermutter. Fünfundsiebzig Jahre alt ist sie jetzt und sie lebt in Perm. Man sollte meinen, ein paar altersbedingte Zipperlein wären normal, mindestens leicht gebücktes Gehen, oder Probleme durch fehlenden Schlaf.

Aber Katja geht immer aufrecht wie ein junges Mädchen, schläft prächtig und ist auch sonst bei Rückfragen bester Gesundheit. Fühlt sie sich unbeobachtet, geht sie sehr gebeugt und wenn sie nachmittags am Tisch einschläft, dann weiß jeder, sie hat nachts vor Schmerzen nicht schlafen können.

Trotzdem, wenn ich sie frage: Katja, wie geht es Dir - ihre Antwort ist immer, und da gibt es keine Ausnahme – alles Normal. Und wenn ich sie bei ihrem gebeugten Gang sehe, dann tut sie so, als ob sie sich gerade hat bücken wollen.

Katja spricht heute in ihrem hohen Alter noch ein paar deutsche Wörter und sie kann immer noch "Fuchs du hast die Gans gestohlen" singen. Das hat sie auf der Schule gelernt, gerade in jener Zeit, als Hitler über Russland herfiel. Perm war damals weit ab vom Schuss und das kann man wörtlich nehmen, in Perm wurde nie geschossen. Vom Krieg hat man dort also nicht viel mitbekommen, wenn man mal außer acht lässt, wie viele junge Männer plötzlich nicht mehr da waren und nie wieder zurückkehrten, und wie viele der älteren Männer später dann den jungen hinterher ziehen mussten und auch nie wieder kamen, und wie sehr man gehungert hat.

Auf den Deutschunterricht in der Schule hatte das keinen Einfluss, die Sprache wurde weiter gelehrt, man schwenkte nicht etwa auf Englisch um. Ich weiß nicht, wie gut Katja damals Deutsch sprach, vermutlich so, wie ich auf der Schule Französisch, also nicht so gut. Bei ihr ist jedenfalls heute noch etwas Deutsch vorhanden.

In Katjas Haushalt lebt mein Schwager Wladimir, oft zum Wochenende dessen Freundin Oxana und sehr oft auch Mischa, Wladimirs Sohn, heute elf Jahre alt, durch meine Heirat mit Galina, mein Neffe. Wenn irgendwann Julia, Wladimirs geschiedene Frau und Mischas Mutter dort wohnen sollte, wäre ich nicht überrascht. Bei Kaffee und Kuchen am Tisch neben Oxana, zusammen mit Mischa und Wladimir, habe ich sie schon oft erlebt. In Russland ist eben vieles anders und manches auch ganz anders.

Und dann leben da immer noch andere Kinder, Jugendliche, die aus einsichtigen Gründen nicht bei ihren Eltern sein können, weil der Vater ein Säufer ist, weil die Mutter gerade tausende Kilometer entfernt etwas Geld verdienen muss. Katjas Wohnung hat nur zwei Zimmer und eine große Küche, aber Platz für vorübergehend obdachlose Kinder hat Katja immer.

Da ist Igor. Igor ist inzwischen Ende dreißig und ich hatte anfangs den Eindruck, er gehöre zur Familie, nicht ganz falsch, denn vor mehr als zwanzig Jahren war er eines der ersten Findelkinder Katjas, hat bei ihr gewohnt und wurde mit allem versorgt. Später, dem jugendlichen Alter entwachsen, zog er aus. Damit er es nicht soweit hatte und weil Katja ihn auch vermisst hätte, bezog er das nebenan liegende Apartment.

Ich will nicht alle Findelkinder aufzählen, die meisten habe ich ja auch nicht kennengelernt. Das derzeitige Findelkind jedenfalls ist Grischa. Grischa ist neunzehn Jahre alt und wohnt zum Wochenende bei seinen Eltern in einem Dorf, etwa drei Stunden mit dem Bus von Perm entfernt. Das Dorf ist sehr klein, nur zehn Familien leben dort und es hat auch keinen eigenen Busanschluss. Bis zur nächsten Haltestelle ist es etwa eine Stunde zu Fuß, im Winter ein gefährliches Unterfangen. Grischa kann nicht jeden Tag zur Schule nach Perm fahren.

In der Familie sagt man – Grischa studiert in Perm. Grischa ist etwas einfältig und er besucht eine Schule für Behinderte. Trotzdem sagt jeder in Katjas Umfeld – unser Grischa studiert - und es wird niemand widersprechen. Grischa ist taub, liest von den Lippen, kann wenig aktiv sprechen. Er ist sehr klein und wegen einer Verkrümmung der Halswirbelsäule hält er den Kopf etwas schräg. Er freut sich immer und wenn man ihn anspricht, lächelt er, obwohl er vermutlich nichts verstanden hat. Er gibt auch Antwort, aber nur Katja und Mischa verstehen ihn. Für seinen Laptop haben alle zusammengelegt und Grischa ist sehr stolz auf das Gerät.

Grischa kommt montags sehr früh aus seinem Dorf mit dem Bus nach Perm, besucht die Schule und nach der Schule geht er zu Katja. Weil die Wohnung sehr klein ist, schläft er auf einer Matratze vor Katjas Bett auf dem Boden. Wenn seine Schulzeit in diesem Jahr zu Ende geht, dann kann er immerhin schreiben und lesen und einen Laptop bedienen. Er wird dann ins Dorf seiner Eltern zurückkehren. Sie besitzen ein paar Kühe und Schweine und bewirtschaften die üblichen Kartoffel- und Kohlfelder, Grischa wird dort dringend gebraucht. Jedenfalls kann er die Zeitungen lesen, die sich mit großer Verspätung ins Dorf verirren, oder ab und zu ein Buch über Computer, wenn er an seinem Laptop sitzt. Internet wird er nie haben, dafür ist das Dorf zu weit von Perm entfernt. Aber er kann lesen und das verdankt er zum großen Teil Katja.
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