.........oder der kasachische Hammel
Kürzlich habe ich gelesen, dass in Astana, der Hauptstadt Kasachstans, ähnlich wie in Dubai, Shanghai und Moskau, modernste Hochhäuser – Hochhausburgen – geplant sind, oder bereits gebaut werden. Kein Wunder, das Land schwimmt auf Öl und im Geld. Und nicht nur Öl, auch sonst ist in Kasachstan so ziemlich alles an Bodenschätzen vorhanden, was auf diesem Globus vorkommt und selten und teuer ist. In Astana gibt es ein Handballfeld großes Relief ganz Kasachstans, wo als Miniaturen die Bodenschätze des Landes und die entsprechenden Bohrtürme und sonstigen Fördereinrichtungen dargestellt sind.
Wenn man diese Relief sieht, dann weiß man, wie reich das Land ist – sein könnte. Aber Kasachstan ist auch heute noch ein Feudalstaat, von jeder einer Demokratie ähnlichen Struktur Lichtjahre entfernt.
Bis vor gut 10 Jahren war Almaty Hauptstadt. Dann, so sagt man, hätte Präsident Nursultan Nasabajev sich dort nicht mehr wohlgefühlt, er hatte gerade in dieser Gegend Kasachstans wohl doch ein paar ernst zu nehmende Gegner. Er hat, so sagt man, in der Steppe um die damalige Kleinstadt Astana, schön gelegen an einen Fluss, eine Fläche abstecken lassen und befohlen, dort seine neue Hauptstadt zu bauen. So oder so ähnlich soll es gewesen sein. Wenn es nicht so war, dann ist es gut erfunden, denn es zeigt überdeutlich die Machtbefugnisse und den Regierungsstil des Präsidenten.
Die medizinische Versorgung des Landes dagegen beschränkt sich auf die größeren Städte. Im Süden des Landes, in den Grenzgebieten nach Usbekistan, bricht auch heute noch in den Sommermonaten die Schwarze Pest aus. Man spricht von etwa 40 Fällen pro Jahr. Dunkelziffer? Solche Fragen stellt man nicht in Kasachstan. Ein ähnliches Problem ist die Tuberkulose, übrigens nicht nur in Kasachstan, sondern in der ganzen Region. Die Kindersterblichkeit liegt laut WHO bei 18% und drüber. Aber das sind Zahlen, die offiziell nicht bestätigt werden, denn das Land ist ein immer wichtiger werdender Öl- und Rohstofflieferant - man nimmt Rücksicht, auch wenn der Präsident in einigen Ländern Einreiseverbot hat und er bereits auf dem Flughafen mit seiner Festnahme rechnen müsste.
Die Medizintechnik war es, die mich vor 7 oder 8 Jahren nach Kasachstan verschlug. Das Gesundheitsministerium wollte Computer von uns kaufen und die dazu gehörende Software für Telemedizin. Der Kontakt war entstanden durch einen Wolga-Deutschen mit Namen Alexander aus Karaganda, der nach Deutschland umgesiedelt war. Den hatte ich getroffen und der hatte diese viel versprechende Verbindung aufgebaut.
Aus unseren grandiosen Geschäften wurde nichts, aber ich lernte das kasachische Gesundheitssystem von innen kennen.
In diesen Ländern fühlen sich die Einladenden, die Firmen und Ministerien verpflichtet, für das Wohlergehen ihrer Gäste zu sorgen. Früher in Moskau nannte man das ‚Kulturprogramm’, was bedeutete, dass man bis mittags in meist nutzlosen Besprechungen herum saß, nachmittags folgten Besichtigungen wie Besteigung des Funkturms, Besuch von Chruschtschow, Nina und Stalins Frau usw. auf dem Friedhof, das Leninmausoleum, abends Schwanensee oder Nussknacker im Bolschoi-Theater, Ausflüge in die nähere Umgebung – und immer Essen und Trinken, vor allem Trinken.
Ich will jetzt nicht die altbekannte Litanei anstimmen, dass alle osteuropäischen Männer und insbesondere die Russen ausnahmslos Trinker seien. Vielleicht ist der Unterschied nur der, dass man in Osteuropa sich öffentlich ohne jede Hemmung betrinkt. Trinken ist meist auch mit Ritualen verbunden, das sich Zuprosten, auf die Gesundheit des anderen trinken, spielt dabei eine große Rolle, was den Verbrauch beträchtlich fördert. Die Tatsache, dass die Kasachen mehrheitlich Moslems sind, beeinträchtigt nicht im Mindesten die Häufigkeit der Trinkgelage.
Aber ich kenne nur einige Städte, auf dem Land mag das ganz anders sein.
In Astana gibt es nicht so viele Sehenswürdigkeiten, zumindest damals nicht. Zum Wochenende wurde man zum Angeln oder zur Wolfsjagd eingeladen und da die Wölfe knapp geworden waren, blieben Essen und Trinken Trinken Trinken Trinken. Je nach Wetter und Gastgeber verbrachte man das Wochenende in der Steppe, in den Jurten, da wurde dann getrunken. Oder man ging in die Sauna und da wurde getrunken getrunken getrunken getrunken.
Wirklich übel waren diese ständigen Trinksprüche. Dauernd stand einer auf und hielt eine Rede auf die großartige Zusammenarbeit, die noch gar nicht angefangen hatte, dauernd war man selber dran und wehe, man versuchte sich zu drücken. Das ist unhöflich! Ich hielt meine Trinksprüche nur auf Deutsch, das verstand zwar niemand, aber wenigstens war die Gefahr von Missverständnissen gering. Ich sagte was von der Deutsch/Russisch/Kasachischen/Sowjetischen Freundschaft, Reihenfolge beliebig. Auch bei der sowjetischen Freundschaft hat nie einer protestiert, war ja auch noch nicht so lange her.
Jedenfalls machte mir das alles eine ganze Weile richtig Spaß, bis ich dann abends beim Billardspiel umkippte. Nicht etwa sturzbetrunken, ich habe da so ein paar Tricks, die das einigermaßen sicher verhindern, aber es war einfach insgesamt zu viel geworden. Wir waren an diesem Tag ziemlich früh ganz offiziell bei einigen Parlamentariern zu Gast und um 10 Uhr standen schon Cognac und Konfekt auf dem Tisch, eine für mich tödliche Kombination. Mittags gab es Schaschlik und Kefir. Im Kefir war aber auch irgendwas drin, was da eigentlich nicht rein gehörte. Der Nachmittag war auch feucht-fröhlich, und abends dann ging ich Ko am Billardtisch.
Eben war ich noch da und setzte zu einem meisterhaften Stoß an, dann sah ich plötzlich das Blaulicht vom Krankenwagen. Als nächstes lag ich auf einem OP-Tisch und sah ganz in weiß gekleidete Menschen. Wenn die Flügel gehabt hätten, wäre mir wohler gewesen, denn dann hätte ich alle Übel dieser Welt hinter mir gehabt. Aber sie hatten keine Flügel, ich war noch auf dieser Erde und mir war furchtbar übel.
Nachdem ich alles, was so im Laufe des Tages und der letzten Woche in mich rein geflossen war wieder los war, auf gleichem Weg, nur in Gegenrichtung, was ein ziemliches Stück Arbeit war, wurde mir langsam besser und ich wollte wieder gehen, zurück ins Hotel. Man ließ mich nicht, man wollte erst die Technik des Hauses an mir ausprobieren.
Natürlich wussten alle, weshalb ich in Kasachstan war. Also galt es zu zeigen was man hatte, über welche Technik man verfügte.
Irgendwie schaffte ich es klar zu machen, dass ich erst mal dringend schlafen wollte und man steckte mich ins Bett. Mein Wolga-Deutscher Begleiter Alexander belegte das Bett gegenüber, machte sich aber erst mal auf die Suche nach etwas Trinkbarem. Weil die Ärzte, denen er Wodka abgeluchst hatte, auf mich rund um die Uhr aufpassen wollten, kamen alle mit in das kleine Krankenzimmer und starteten einen feucht-fröhlichen Kameradschaftsabend auf dem Bett gegenüber.
Nach kürzester Zeit war ich der einzige nüchterne Mensch im Raum, wobei das relativ zu sehen ist, so schnell nüchtert man nicht aus.
Schlaf konnte ich vergessen, stattdessen musste ich mich der Versuche erwehren, dieses und jenes Geheimrezept auszuprobieren, zwar alle klinisch nicht erprobt, dafür aber vor hunderten von Jahren von den Ahnen übernommen und deshalb besonders verlässlich. In guter Erinnerung habe ich noch Wodka mit Salz. Ich habe es nicht getrunken, nur höflich dran gerochen, deshalb lebe ich noch. Ich wette, hätte ich alle diese Naturrezepte ausprobiert, ich hätte Kasachstan in einem Zinksarg verlassen.
Es wurde gesungen, Soldatenlieder, Alexander wollte Kasachok tanzen, das klappte aber nicht mehr so gut, er fiel dauernd um.
Nach einigen Stunden kehrte Ruhe ein, die hervorragenden medizinischen Kapazitäten des Landes waren besoffen, mein Alexander auch. Alle lagen zusammengeknäuelt auf dem schmalen Krankenbett, zwei lagen auf dem Boden, alle schliefen und schnarchten. Endlich konnte ich auch schlafen.
Am nächsten Morgen waren alle verschwunden, wohl zur Morgenvisite. Alexander lag alleine im Bett gegenüber und schnarchte. Es kam Frühstück, irgendwas wie Kekse und Tee.
Danach wurde ich von einigen ernst blickenden Schwestern abgeholt, die sehr militärisch wirkende Schwesterntracht trugen. Der Ton war auch ziemlich militärisch. Man brachte mich in einen OP-Raum und ich musste mich auf einen OP-Tisch legen. Eine zog mir die Hose aus, ich erstarrte, ahnte, was da kommen sollte. Und richtig, die – wohl Oberschwester – brachte ein Paket, braunes Packpapier. Das Paket dampfte noch, kam gerade aus dem Sterilisator. Sie wickelte es aus, hervor kam ein Gartenschlauchähnliches Gerät – ein Harnkatheter! In meiner zugegeben leicht gestörten Perspektive kam mir das Ding wirklich dick wie ein Gartenschlauch vor.
Ich hätte eine Vergiftung und das wollte man doch genauer untersuchen, und dafür brauche man Urin in seinem ursprünglichen Zustand, sozusagen direkt von der Quelle, wurde mir erklärt.
Aber sie hatten einen Fehler gemacht, sie hatten mich nicht angeschnallt. Ich kletterte von dem OP-Tisch runter, zog meine Hose hoch, sagte nein Danke und auf Wiedersehen, bis Morgen dann alles Gute, hat mich sehr gefreut, und höflich in jeder Lebenslage ging ich unsicheren Schrittes wieder in mein Zimmer zurück und legte mich ins Bett. Langsam war ich doch etwas beunruhigt. Wie kam ich hier raus? Nur - ich hatte diese sehr kleidsame Krankenhaustracht an, das typische Engelshemd mit dem man im Jenseits sofort als Einheimischer und Zugangsberechtigter erkannt wird. Ich wäre nicht weit gekommen hier auf Erden in Astana.
Alexander war inzwischen auch aus dem Koma erwacht.
Dann erschien ein Arzt, den ich bisher nicht kannte. Er beugte sich über mich und sagte auf Deutsch: Guten Morgen, ich bin Dr. M***, ich bin hier der Oberarzt, ich stamme aus Hamm. Wie geht es uns denn heute Morgen?
Ich war drauf und dran, ihm einen Heiratsantrag zu machen!
Um es kurz zu machen, eine Stunde später war ich geduscht und wir saßen in einem Taxi zurück zum Hotel.
Am nächsten Tag waren wir wieder eingeladen. Ich war ja gerade erst dem Teufel von der Schippe gesprungen und das musste gefeiert werden. Ich sagte gleich zu Beginn, Wodka und Ähnliches, nein Danke, das ginge heute noch nicht. Aber Essen? Doch, ja bitte, Essen gerne.
Es gab die üblichen Getränke, ich trank Wasser, dann brachte man das Essen.
Eine große flache Schüssel aus Metall wurde herein getragen, etwa einen dreiviertel Meter im Durchmesser. Der Boden der Schüssel war mit einem mehrere Zentimeter dicken Berg Nudeln bedeckt, alles schwamm in Öl. Und oben auf dem Nudelberg und dem Ölsee thronte ein Hammel, der einen wirklich üblen Geruch nach Fett und Blut verströmte. Der Hammel war enthäutet, der Kopf war noch dran, die Ohren hatte man ihm auch gelassen. An den Seiten lief ihm das Fett runter, leicht blutig, er bleckte mich grinsend mit seinen Zähnen an, er glotzte mich an, denn die Augen waren auch noch da, wo sie sich zu seinen Lebzeiten mal befunden hatten. Hätte er mit den Ohren gewackelt und gemeckert, ich hätte mich nicht gewundert!
Der Herr des Hauses hielt eine kurze Ansprache, alle tranken auf mein Wohl. Dann sagte er: Du bist heute unser Ehrengast, Du musst den Kopf essen, fange mit den Augen an, das ist das Beste am Hammel.
Ich stand mühsam auf und ging so gemessen und würdevoll wie in meinem Zustand nur irgend möglich zur Toilette, um dort noch die allerletzten Reste meiner lasterhaften letzten Wochen loszuwerden. Ihr Götter Kasachstans, wo ist der Eingang zu einer großen dunklen Höhle, wo ich mich verkriechen kann?
Wie ich eingangs schon sagte - Geschäfte haben wir nicht gemacht, aber den Hammel werde ich mein Lebtag nicht vergessen.